Auf einmal bedeutet ihm Zeit nichts mehr, Schweinefleisch ist nicht mehr geniessbar und ein Buchstabe enthält das ganze Alphabet. Ein Hirnschlag hat Werner Flüeler zu einem anderen Menschen gemacht.
Erschienen am 28.02.2024 im «Bieler Tagblatt»
Beim dritten Treffen räumt Werner Flüeler den Tisch leer. Er nimmt Fragebogen, Aufnahmegerät und Stifte weg und legt ein Dossier mit seinem Lebenslauf hin.
Flüeler: «So geht es einem nach einem Hirnschlag. Alle anderen sagen, wer man ist.»
Immer wieder hat Flüeler versucht zu erklären, was ihm widerfahren ist, aber Worte reichen nicht. Ans erste Treffen hat der 70-Jährige schwere Lexika mitgeschleppt und unter den Tisch gelegt.
«Was ist anders als früher, Herr Flüeler?»
Flüeler: «Bei mir ist das Lexikon jetzt auf dem Boden – das Wissen über den Menschen, das Gehirn. Wenn ich mit jemandem spreche, muss ich den Weg hinunter machen und die Dinge zusammensuchen.»
Flüeler probiert es mit Bildern und Beispielen, aber diese sind alle unzulänglich. Seit dem Hirnschlag vor einem Jahr ist Flüelers Welt eine andere. Die Menschen um ihn herum haben keine Ahnung, wie diese aussieht, und auch er hat Mühe, sie zu verstehen.
Er ist bereit, über sein neues Leben zu sprechen. Es wird drei Treffen geben, bei denen sich nach und nach ein Eindruck davon zusammensetzt, wie es Flüeler ergeht.
Immer dabei ist Hanno Thomann. Dieser hat 1990 bei einem Motorradunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Er setzt sich für die Anliegen von Menschen mit einer Hirnverletzung ein und hat vor 25 Jahren die Organisation Fragile Bern Espace Mittelland mitgegründet. Während der Gespräche führt er Protokoll, damit sie nachher alles noch einmal durchgehen können.

Seine Hirnverletzung ist unsichtbar
Das erste Treffen findet in einem Restaurant vis-à-vis des Bieler Bahnhofs statt. Flüeler ist schon da. Als er die Türe öffnet und ins Restaurant hineinwinkt, wirkt er völlig souverän. Überhaupt sieht er genau gleich aus wie auf dem Foto, das die Google-Suche von ihm ausspuckt und das einige Jahre vor dem Hirnschlag entstanden ist. Weisses Haar, das ein wenig zerzaust ist, darunter Augen, die immer ein wenig lächeln. Eine Hirnverletzung ist manchmal unsichtbar.
Flüeler: «Mir ist es unangenehm, andere darauf aufmerksam zu machen, dass ich einen Hirnschlag hatte. Und für das Gegenüber ist es auch schwierig: Was kann er eigentlich noch?»

Thomann: «Wieso fühle ich mich unwohl, wenn ich an einer kantonalen Behindertenkonferenz neben blinden Menschen und Personen im Rollstuhl sitze? Wieso habe ich das Gefühl, ich sei weniger behindert als sie? Ich habe das Denken der Gesellschaft verinnerlicht: Mir sieht man nichts an, also geht es mir gut.»
Flüelers alte Welt ist die Technik. Er war 15 Jahre lang Flugzeugmechaniker bei der Swissair und leitete Projekte im Sozialbereich und in der Industrie. Als Pensionär hat er im zürcherischen Eglisau älteren Menschen Computerkurse gegeben.
Flüeler: «In dem Moment, in dem der Hirnschlag zuschlägt, ist alles, was davor war, passé. Man muss alle Adressen neu ins Handy eingeben. Der Bildschirm ist schwarz, das Betriebssystem weg, das Backup funktioniert auch nicht.»
So war es jedenfalls bei ihm. Jeder Hirnschlag ist anders. Manche Menschen leben danach ihr Leben weiter, andere sind gelähmt und auf Pflege angewiesen. Überhaupt steht ein Schlaganfall für verschiedene Ereignisse im Gehirn: Blut kann austreten oder ein Gerinnsel ein Gefäss verstopfen. Weshalb Flüelers Gehirn plötzlich nicht mehr mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt war, weiss er nicht.
Das Gefühl für die Zeit ist weg
Es passierte in der Nacht. Werner Flüeler erwachte am Sonntagmorgen und seine Frau sagte zu ihm: «Du, etwas stimmt mit dir nicht.» Das machte Flüeler wütend. Er wies sie zurecht, wie er es noch nie getan hatte. Er verliess das Haus und spazierte dem Zihlkanal in Nidau entlang. Sein linker Mundwinkel hing hinunter, wenn er ehrlich war, schwankte er ein wenig. Aber das konnte er ja verdrängen. Und ins Spital durfte er nicht einfach so gehen, dachte er.
Er hat dieses Krankenkassenmodell, bei dem zuerst der Hausarzt konsultiert werden muss, seine Hausärztin kannte er aber gar nicht. Schliesslich war er immer gesund gewesen.
Thomann: «Das ist verrückt. Werner, es tut mir weh zu hören, dass wegen dieser Strukturen, diesem Krankenkassenmodell, eine Wand im Kopf ist und dich daran hindert, in den Notfall zu gehen!»
Bei diesen Symptomen sollte die Ambulanz gerufen werden
– Seh- oder Sprachstörungen
– Schwindel
– Lähmungen
– Taubheitsgefühle
– Plötzliche starke Kopfschmerzen
Dabei zählt jede Minute; es gilt die Weisung «Time is brain».
Drei Tage später hatte Flüelers über 90-jährige Schwiegermutter einen Termin bei der Hausärztin und nahm Flüeler mit. Die Ärztin schickte ihn sofort in den Notfall.
Das war am Dienstag. Nur: An welchem Dienstag? Werner Flüeler ist kein zuverlässiger Zeuge seines eigenen Schlaganfalls. Am Sonntagmorgen, 22. November 2022 sei er mit den Symptomen aufgewacht, erzählt er beim ersten Treffen.
Beim zweiten Treffen schaut Thomann auf dem Handykalender nach und merkt, dass etwas nicht aufgeht: Der 22. November 2022 war kein Sonntag.

Auf einmal ruft Flüeler aus:
«Das war im Oktober, nicht im November! Sorry, sorry, tut mir leid. Wenn ich jetzt mit einer Amtsstelle zu tun gehabt hätte, hätte das ein Riesenproblem werden können.»
Thomann: «Das ist das Schlimme: Bei der Befragung durch die Krankenkasse oder die IV stützen sich die Begutachter auf die Aussagen der hirnverletzten Person. Sie berücksichtigen selten, dass diese vielleicht eine verschobene Wahrnehmung hat.
Wenn wir Hirnverletzte etwas im Kopf haben, sind wir davon ziemlich überzeugt. Ich habe erst mit den Jahren gelernt, dass es vielleicht gut wäre, mich selbst zu überprüfen. Es kann peinlich werden, und ich will ja, dass man mich ernst nimmt.»
Ein Datum ist etwas, das in Flüelers neuem Leben nicht mehr wichtig ist. Das Gefühl für Zeit ist ihm abhandengekommen. Der alte Flüeler rannte auf die S-Bahn und erwischte sie im letzten Moment. Der neue Flüeler sitzt zwei Tage vor dem Termin beim Zahnarzt im Wartezimmer. Er geht in Biels Innenstadt einkaufen und kehrt nach zwei Stunden zurück – ohne den Grittibänz, den er seiner Frau bringen sollte. Er geht noch einmal los und ist wieder zwei Stunden unterwegs. Spricht mit diesem und jenem und kommt durchgefroren, aber zufrieden nach Hause.

Termine sind ein Riesenstress. Jedes Mal, wenn Flüeler rechtzeitig erscheint, ist er erleichtert.
Weshalb es die «Elch-Uhr» braucht
Werner Flüeler kann noch das meiste, was er einmal konnte, nur braucht es viel mehr Energie. Sein Gehirn versucht die Schäden zu kompensieren, es strengt sich an, um alles auszublenden, was ablenkt: das Klappern der Kaffeemaschine, die Gespräche am Nebentisch und die eigenen Gedanken, die aufpoppen. Flüeler hatte vor dem ersten Treffen am Telefon gewarnt:
«Sie haben es mit Hirnverletzten zu tun, das Gespräch braucht eine Struktur, sonst schweifen wir ab.»
Natürlich schweift das Gespräch ab, verzettelt sich, wie das jedes Gespräch tut. Nur passiert es häufiger, manchmal reicht eine Nebenbemerkung und Flüeler schlägt ein neues Kapitel auf. Das Gehirn hält irgendwie die Fäden zusammen – bis zur Erschöpfung. Wenn Hirnverletzte bemerken, dass ihr Gehirn überfordert ist, ist es oft schon zu spät.
Thomann: «Es ist wie ein Handy mit allen Funktionen, aber ohne Akku-Anzeige. … Wie ein alter Plattenspieler: Die Nadel bleibt in der Rille hängen und man merkt es nicht sofort. Von allein kommt die Nadel nicht raus, es braucht jemanden, der sie anhebt.»
Deshalb nimmt Flüeler ans zweite Treffen seine «Elch-Uhr» mit, einen Küchenwecker. Auf einem roten Podest sitzt ein Elch aus Plastik und dreht sich mit den tickenden Sekunden. Wenn der Elch losgeht, gibt es eine Pause.

Das erste Treffen hätte eine solche Pause gebraucht. Für Menschen mit einem gesunden Gehirn drängt sich der Lärm im Restaurant gegenüber des Bieler Bahnhofs erst auf der Tonaufnahme in den Vordergrund. Geschirr klappert, etwas hört sich wie ein Mixer an, dann piepst es. Flüeler und Thomann haben keinen Filter, der das alles ausblendet. Irgendwann drückt Thomann die Faust gegen die Schläfe, Flüeler entschuldigt sich, um auf der Toilette den Nebengeräuschen zu entfliehen.
«Herr Flüeler, wie merken Sie, dass ihnen alles zu viel wird?»
Flüeler: «Es kommt vom Bauch her. Wenn es im Herzen ankommt, ist es zu spät, dann ist die Batterie schon leer. Es geht nichts mehr. Da nützt es nichts, zu sagen, dass ich mich zusammenreissen soll.»
Thomann: «Wird die Zunge taub, ist der Akku rot. Aber ich kann es ja noch verstecken, kann mich selbst täuschen. Wenn es noch tiefer geht, kommen Übelkeit, Schwindel, Erbrechen und Durchfall.»
Das zweite und das dritte Treffen finden im Bieler Co-Working-Space «Der Ort» statt, wo keine Kaffeemaschine rumort. Die Leiterin kennt Flüeler, fragt, ob es stört, wenn eine Gruppe am Nebentisch arbeitet.
Wenn Hirnverletzte ins Leben katapultiert werden
Werner Flüeler realisierte nach dem Schlaganfall erst nach und nach, dass mit seinem Gehirn etwas anders war. Falls ihm die Hausärztin gesagt hat, er habe einen Hirnschlag, hat er das verdrängt. Im Spitalzentrum Biel wollte er nichts von dem wissen, was die Ärzte erzählten. Nur die Logopädin gewann sein Vertrauen. Sie übte mit ihm atmen, sprechen, lesen und laufen. Drei Tage sei er im Spital gewesen, sagt Flüeler. Wenn ihm jemand vorgeschlagen hätte, anschliessend eine Rehabilitation zu machen, hätte er sich dagegen gewehrt.
Im Spital kümmern sich Expertinnen um die Verletzungen. Wer danach in eine Rehaklinik geht, muss sich dort um nichts sorgen. Patienten können sich erholen, das Gehirn hat Zeit zu heilen. Zurück im Alltag gibt es all dies nicht mehr. Die Menschen sind auf sich allein gestellt. Die Organisation Fragile trifft immer wieder Betroffene und Angehörige, die mit der neuen Situation überfordert sind.
FRAGILE
In der Schweiz leben rund 130 000 Personen mit einer Hirnverletzung. Fragile Bern Espace Mittelland setzt sich für Betroffene und ihre Angehörigen ein. Die meisten Betroffenen hatten einen Schlaganfall, ein Schädel-Hirn-Trauma oder einen Hirntumor.
Die Organisation bietet etwa Sozial- und Rechtsberatungen an und organisiert Kurse und Veranstaltungen. Ausserdem gibt es regionale Treffen und Gesprächsgruppen. In Biel findet das Treffen einmal pro Monat an der Bahnhofstrasse 30 statt.
Fragile Bern
Werner Flüeler fand im Spital einen Flyer von Fragile Bern, er sah, dass es regelmässige Treffen in Biel gibt und entschied, dass er die Gruppe leiten will. Dann spazierte er aus dem Spital hinunter in die Bieler Altstadt und nach Hause. Ein gutes Jahr nach seinem Hirnschlag moderierte er im November 2023 ein erstes Treffen in Biel.
Die Gruppe hat 44 Mitglieder; es kommen jeweils zwischen 5 und 20 Betroffene zusammen.
Er hinterfragt
Hier begegnet Flüeler Menschen, denen es ähnlich geht wie ihm. Er erzählt von der Aggression, die er neuerdings in sich hat und merkt, dass andere auch damit kämpfen.
Flüeler: «Ich lege mich zum Beispiel mit Microsoft an. Wenn die mir einen schwarzen Bildschirm auf den Computer projizieren, werde ich wütend – und zwar massiv!»
Ein anderer Betroffener rät Flüeler, auf eine Chili-Schote zu beissen, wenn die Wut kommt. Flüeler probiert das aus und findet es interessant. Im vergangenen Jahr hat er sich neu organisiert, seine Sachen anders eingeräumt, die Ernährung umgestellt. Vieles intuitiv.
«Hat sich denn Ihr Geschmack verändert, Herr Flüeler?»
«Das mag sein. Es fällt mir erst jetzt auf. Schweinefleisch mag ich nicht mehr.»
Dinge, die Flüeler früher wie die meisten Menschen einfach so hingenommen hatte, treiben ihn nun um. Er hinterfragt viel. Zum Beispiel versteht er nicht, wieso im Kanton Bern jemand Ständerat werden kann, ohne durch den zweiten Wahlgang zu gehen, nur weil sich die anderen zurückziehen. Also, ohne vom Volk gewählt zu sein.
Regeln und Werte sind für ihn nichts als willkürliche Vereinbarungen zwischen Menschen. Flüeler nimmt eine Zehnernote hervor:
«Wenn ich jetzt eine Zwölf draufschreibe, gebe ich Ihnen zwölf Franken. Das ist alles nur eine Abmachung zwischen uns. Geld ist nichts wert, das ist passiert. Und Zeit ist nur ein Strahl.»
Flüeler nimmt einen Stift und schreibt «A»:
«Sie sehen da einen Buchstaben und fixieren sich auf das A. Ich sehe eine Buchstabensuppe. Für mich sind da A, R, Z, C, T, F, H, B, V, I, K, W, L, M, G, N, D, O, P, S, U, X, E, J, Y, Q. Das Ganze.»
Logik raus, Herz rein
In der Bieler Fragile-Gruppe hat Flüeler gemerkt, dass er nicht der Einzige ist, dem es so ergeht. Er nahm seine Frau mit, damit sie sah, dass noch andere ticken wie er. Obschon Flüeler und Thomann ganz unterschiedliche Hirnverletzungen erlitten haben, ähnelt sich ihr Blick auf die Welt in manchen Punkten. Beide haben neue Dimensionen entdeckt:
Flüeler: «Mein Gehirn wurde grösser als das Weltall. Soll mir einfach einer sagen, wie das funktioniert, ich habe Mühe. Aber das ist mein Gefühl. Es ist ein Wunder für mich, was ich erlebt habe.»
Thomann: «Wir sprechen meistens vom selben, obwohl jeder andere Erfahrungen gemacht hat. Es ist ein anderer Kanal offen. Das ist Picasso und Salvador Dalì zusammen. Dann kommt noch die Odyssee 2001 von Kubrick rein. Zeit und Raum verzerrt. Wir müssen lernen, uns darauf einzulassen und uns neu justieren. Gleichzeitig muss man mit dem Alltag mithalten. Man lebt mit den Leuten und in einer Parallelwelt.»

Von einer mystischen Erfahrung berichtet auch die amerikanische Hirnforscherin Jill Taylor. In ihrer Autobiografie schreibt sie darüber, wie sie während eines Schlaganfalls neue Dimensionen des Bewusstseins entdeckte. Sie beschreibt, wie sie eins wurde mit dem Universum, im Raum zerfloss und gleichzeitig analysierte, welches Hirnareal in ihrer linken – der rationalen – Hirnhälfte gerade Schaden nimmt.
«Herr Flüeler, wissen Sie, welcher Teil Ihres Gehirns vom Schlaganfall betroffen ist?»
Flüeler: «Die Logik kam raus und das Menschliche rein. Es ist ein anderer Chip.»
«Wie merken Sie das?»
«Früher hatte ich immer ein denkendes Herz, alles musste logisch sein. Das ist jetzt anders. Es macht nicht mehr alles einen Umweg über das Denken. Da ist so eine Wärme.»

Dieser Artikel ist der dritte Teil einer Diplomarbeit am Institut für Journalismus und Kommunikation (MAZ).
Hier geht es zu Teil 1: Das Gehirn erstickt
Hier geht es zu Teil 2: Er tastet sich an einen neuen Alltag heran
Kommentare
Wunderbar.
Herzliche Gratulation und Dank.
Weiterhin viele passende und treffende Worte.
Mit de beschte Grüess
Hanno Thomann
Danke, Sie haben uns sehr gut zugehört.
Wir wünschen, dass viele Menschen mit einer Hirnverletzung die Gesprächesgruppen am 1. Samstag im Monat besuchen werden. Dieser Beitrag zeigte uns auf, wie wir die Treffen gestalten werden.
Ihnen, wünsche ich die beste Note für diese Arbeit. Es war eine gute Erfahrung mit Ihnen zu arbeiten.
Herzlichen Glückwunsch
Werner Flüeler
Gesprächsleiter
Fragile Treffen in Biel/Bienne
Lieber Werner, äusserlich bist du ja noch ganz der Alte. Und innerlich finde ich auch nach deinem Schlaganfall die gleichen positiven Werte wie früher. Herzlich liebe Grüsse aus Eglisau Ernst