Im Dispo in Nidau hat die Eröffnungsfeier des Solidaritätsanlasses für die Ukraine stattgefunden. Geflüchtete liessen die Ansässigen an ihren Erfahrungen und Gefühlen teilhaben. Und sie brachten mit Bortschtsch und Wareniki ihre Kultur näher.
Erschienen am 22.08.2022 im «Bieler Tagblatt»
Die Stimme der jungen Frau ist tiefer, als man erwarten würde. «Flügel» heisst das Gedicht, das sie vorträgt. Sophiya Shumeiko hält ein pinkfarbenes Handy in der Hand, wirft ab und zu einen Blick darauf, liest aber nicht ab. Sie spricht Ukrainisch – auch wer kein Wort versteht, folgt der Sprachmelodie gebannt. Das Gedicht erzähle von der Freiheit, sagt Shumeiko auf Englisch.
Sie steht auf der Bühne im Dispo Nidau. Auf dem Parkplatz draussen stehen vereinzelt Autos mit ukrainischem Nummernschild, es riecht nach warmem Essen, nach Kohl und Zwiebeln.
Anlässlich des ukrainischen Nationalfeiertages hat der Nidauer GLP-Präsident und Stadtrat Stefan Dörig zusammen mit dem Nidauer GLP-Gemeinderat Beat Cattaruzza einen Solidaritätsanlass organisiert. Sie hätten an der gestrigen Eröffnungsfeier mit 200 bis 300 Gästen gerechnet, gezählt hat Dörig dann rund 400.


Ohne Botschafter
Auf dem Podium diskutieren die GLP-Nationalrätin Melanie Mettler, die ukrainische Historikerin Olha Martynyuk und der Historiker Boris Belge; SRF-Korrespondent Sebastian Ramspeck moderiert. Nicht erschienen ist der ukrainische Botschafter. Er habe am Vorabend mit diesem telefoniert – da habe er noch versichert, dass er jemanden vorbeischicken würde, sagt Stefan Dörig später. Dörig ist zwar ein wenig enttäuscht, dass doch niemand von der Botschaft aufgetaucht ist. Doch das habe der Diskussion keinen Abbruch getan.
Danach gefragt, was für sie typisch ukrainisch ist, sagt Olha Martynyuk: «Die Küche, die Musik, die Sprache, dass wir ein grosses Land sind mit vielen Leuten.» Sie wolle die Ukraine aber nicht als exotisch darstellen – «es ist nur ein Land wie andere und die Menschen sind Menschen wie andere auch». Am Anlass geht es den Organisatoren vor allem darum, die Ukraine den Menschen hier näher zu bringen, zu zeigen, dass sie viel mehr ist «als nur Tragödie und Heldenmut». Die Diskussion dreht sich dann aber doch vor allem um den Krieg. Martynyuk sagt von sich, sie sei bis vor dem Krieg Pazifistin gewesen, doch die neue Realität zeige, dass schwere Waffen Leben retteten.

Moderator Ramspeck stellt die grossen Fragen: Wann beginnt die ukrainische Geschichte? Was ist von Friedensverhandlungen zu halten? In den Antworten liegt wenig Hoffnung: Eine friedliche Lösung werde immer unwahrscheinlicher, sagt Historiker Boris Belge (siehe auch das grosse Interview im BT vom Samstag); es werde immer russische Soldaten geben, die bereit sind, für Geld zu kämpfen, ist Olha Martynyuk überzeugt.
So erschütternd die Worte der Ukraine-Experten auf der Bühne auch sind, die schrecklichen Geschehnisse bleiben an diesem warmen Augusttag irgendwie unwirklich und fern. Die Menschen sprechen im Hintergrund angeregt, immer wieder lösen die Mikrofone ein schrilles Pfeifen aus, und Hunde bellen.
80 Liter Borschtsch
Für die anwesenden Ukrainerinnen und Ukrainer ist der Krieg aber allgegenwärtig. Olha Martynyuk kam vor einem Jahr mit einem Arbeitsvisum in die Schweiz, um an der Universität zu unterrichten, und hat mittlerweile einen Flüchtlingsstatus. Wie sie sind auch die Musiker Nadia Branytska und Viktor Solomin, die an diesem Tag mehrmals auftreten, in der Schweiz gestrandet. Solomin unterrichtete in Odessa an der Musikakademie, Branytska ist eigentlich Pianistin. Hier aber singt sie traditionelle ukrainische Lieder, die eine befreundete Musik-Ethnologin für sie herausgesucht hat.

Den Veranstaltern war es wichtig, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer, die nun in der Schweiz leben, im Zentrum stehen. Sie halfen bei den Vorbereitungen und kochten. Beat Cattaruzza sagte noch vor wenigen Tagen, dass rund zehn ukrainische Geflüchtete aus Nidau, Biel und dem restlichen Seeland helfen würden. Tatsächlich standen am Samstag dann rund 20 Leute in der Küche und bereiteten 4500 Wareniki zu, wie die ukrainischen Ravioli heissen, und 80 Liter des Kohl-Eintopfs Borschtsch.


Sie kenne nur zwei der anderen Helferinnen, sagt eine Köchin. Aber als sie per Whatsapp-Gruppe von dem Anlass erfahren habe, sei sofort klar gewesen, dass sie helfen wolle. Aus dem ganzen Kanton Bern und aus dem Kanton Solothurn sind Ukrainerinnen nach Nidau gekommen.

Marshmallows und Parfüm
So auch die junge Frau, die das Gedicht von den Flügeln aufgesagt hat. Nach dem offiziellen Teil erzählt Sophiya Shumeiko, dass sie vor zwei Wochen mit ihrer Mutter wandern gegangen sei und mit ihr darüber gesprochen habe, dass man eigentlich etwas organisieren sollte für den Nationalfeiertag. Als sie vom Anlass erfahren habe, seien sie sofort dabei gewesen.
Shumeiko beginnt zu erzählen. Davon, wie sie mit ihrer Mutter und ihrem Hund in die Schweiz geflüchtet ist. Wie sie die kranke Grossmutter zurücklassen mussten, da die Reise für sie zu beschwerlich gewesen wäre, und wie diese letzte Woche auch in die Schweiz gebracht wurde.

Eigentlich hätten sie an diesem Morgen erst einmal nur ihr Auto tanken wollen, hätten aber doch den Hund mitgenommen sowie ihre Dokumente – und seien seither nicht mehr in ihre Wohnung zurückgekehrt. Im Auto seien noch zwei Packungen Marshmallows gewesen sowie eine Flasche Wasser. «Und meine Mutter hatte noch Parfüm mitgenommen als Desinfektionsmittel für den Notfall, da wir nichts anderes mehr zu Hause hatten.»
Shumeiko zeigt auf ihrem Handy die Route, die gemäss Google am schnellsten an die polnische Grenze führt: Mit dem Auto sind es sieben Stunden. Sie seien aber zwei Tage unterwegs gewesen bis an die Grenze, da sie den sichersten Weg gesucht hätten über kleine Strassen. Sophiya Shumeiko erzählt, wie sie Panzer mit abgedeckten Nummernschildern begegnet seien, wie sich Mutter und Tochter auf der Fahrt überlegt hätten, ob sie nicht doch umkehren sollten, um irgendwie zu helfen.
«Dann standen wir zwei Tage an der Grenze zu Polen im Stau.»
Sophiya Shumeiko
Die Mutter habe die ganze Zeit über nicht geschlafen, sie selbst vielleicht eine Stunde pro Tag, ihr Hund habe gezittert und weisse Haare gekriegt wegen dem Stress. Sie selbst habe immer noch Angst vor lauten Geräuschen.
Sophiya Shumeiko, ihre Mutter und der Hund sind in Grenchen bei einer Gastfamilie untergekommen. Letzten Freitag flog die Armee dort auf dem Flugplatz zwei Trainings mit den F/A-18. Die Gastfamilie habe sie gewarnt, sagt sie, «aber ich habe nicht erwartet, dass es mir so Angst machen wird». Sie sei einfach im Zimmer geblieben und habe gehofft, dass es bald vorbei sein werde. Noch immer spüre sie den Stress von der Flucht und sie stellt sich vor, wie schlimm traumatisiert Freunde von ihr sein müssen, die Bombeneinschläge überlebt und Verletzte und Leichen gesehen haben.
In der Ukraine hat sie ein Philosophie-Studium begonnen. Da dieses seit der Coronapandemie ohnehin online stattfinde, könne sie auch aus der Schweiz ihre Kurse besuchen. Aber Sophiya Shumeiko sucht hier Anschluss. Sie will ihr eigenes Umfeld kreieren und auch andere Leute kennenlernen als die Freundinnen, die ihre Mutter hier gefunden hat. Shumeiko lernt Deutsch, um die Universität hier zu besuchen, aber die Sprache sei noch eine Hürde.
Etwas ausgelöst
Sie erschwert auch an diesem Eröffnungsfest im Dispo in Nidau den Dialog zwischen Ukrainerinnen und Schweizern. Denn nicht viele sprechen so gut Englisch wie Shumeiko. Organisator Beat Cataruzza ist dennoch «unglaublich zufrieden», dass so viele Leute gekommen sind. «Da sind ukrainische Menschen zusammengekommen, die sich in der Ukraine nie getroffen hätten», sagt er.
Und auch Stefan Dörig freut sich über die Gemeinschaft und die Geschäftigkeit. Auch wenn die Ukrainerinnen und die Schweizer vielleicht eher unter sich geblieben seien, habe der Anlass sicher etwas ausgelöst bei allen, die gekommen sind. «Vielleicht werden die Besucherinnen und Besuchern künftig die Nachrichten etwas anders schauen», sagt er.