Bild vom Saal, in dem die Unterrichtenden ohne Diplom einen Kurs besuchen

130 Personen haben das Sommercamp der PH Bern besucht, in dem Lehrkräfte ohne Diplom für den Schulalltag fit gemacht werden. Auch zwei Bielerinnen werden nach dem Schnellkurs unterrichten.

Erschienen am 29.07.2023 im «Bieler Tagblatt»

Unter einer Rosskastanie diskutiert eine Gruppe darüber, wie Störenfriede im Unterricht dazu gebracht werden können, ihre Aufgaben zu lösen. Manche sitzen lässig auf dem Stuhl, während andere beim Sprechen nervös ihre Hände kneten. Eine grosse Frau Ende 40 mit Lockenkopf kramt Notizen aus ihrer Tasche hervor.

Anita Stalder ist eine von 130 Teilnehmenden eines zweiwöchigen Sommercamps in Bern für Unterrichtende ohne Abschluss der Pädagogischen Hochschule (PH). Sie alle stehen nach den Sommerferien im Kanton Bern vor einer Schulklasse und sollen hier im Schnellverfahren dafür vorbereitet werden.

Mit dem Handy Begrüssungslieder aufgenommen

Stalder wohnt in Biel, hat die Handelsschule absolviert, in einem Treuhandbüro und später im Gesundheitswesen gearbeitet und die letzten 14 Jahre Erwachsenen Deutsch als Zweitsprache unterrichtet. Unterrichten bezeichnet sie als ihre Leidenschaft. Als sie sich im Frühling nach einem neuen Beruf umschaute, erinnerte sie sich daran, dass massenweise Lehrpersonen gesucht werden.

Porträtfoto von Anita Stalder, farbiges Kleid, lacht in die Kamera
Anita Stalder schätzte im Sommercamp vor allem den Austausch mit den anderen Teilnehmenden. Copyright: Matthias Käser / «Bieler Tagblatt»

Mit dem Lehrplan 21 hatte sie sich bisher noch wenig auseinandergesetzt, aber mit kleinen Kindern könne sie umgehen, sagt Anita Stalder. «Als Mutter bastle ich viel, singe, turne.» Ausserdem war sie jahrelang soziokulturelle Animatorin in einem Quartierverein. Stalder gefiel die Vorstellung, in einem Kindergarten zu arbeiten. Die zweite Stelle, auf die sie sich bewarb, habe sie bekommen: Ab August ist sie Kindergärtnerin an der Primarschule Mühlefeld in Biel.

Um sich vorzubereiten, besuchte Stalder verschiedene Kindergärten, merkte sich Rituale, schaute sich Ämtlipläne an und nahm mit ihrem Handy Begrüssungslieder auf.

Und noch bevor sie sich auf Stellensuche machte, meldete sie sich für eines der neuen Weiterbildungsprogramme der PH Bern an.

Über 2000 Personen unterrichten ohne Diplom

Sie sind nicht mehr wegzudenken, die Anita Stalders, die bereit sind, ohne entsprechende Ausbildung vor eine Klasse zu stehen.

Wie die Bildungs- und Kulturdirektion mitteilt, haben von insgesamt etwas mehr als 15 500 Lehrpersonen an den Volksschulen im Kanton Bern aktuell über 2000 Personen keine anrechenbare Qualifizierung.

Dazu zählen gemäss der PH auch 1500 Studierende, die ihr Studium noch nicht abgeschlossen haben. Doch das reicht eben nicht, um alle Stellen zu besetzen, und so sind die Schulen auf Menschen aus anderen Berufen angewiesen.

Der Vorsteher des kantonalen Amts für Kindergarten, Volksschule und Beratung, Erwin Sommer, sagte diesen Frühling, der derzeitige Lehrpersonenmangel sei die grösste Herausforderung, die er in seiner Funktion bisher erlebt habe.

Andrea Meuli von der PH Bern hat im vergangenen August den Auftrag gefasst, Weiterbildungen für Unterrichtende ohne Diplom zu organisieren. Bereits im Schuljahr 2022/2023 haben 128 Personen einen ersten Kursblock besucht. Das Angebot im Sommer war ausgebucht. Der Projektleiter sagt, es gehe keineswegs darum, das Studium an der PH zu ersetzen. «Aber wir möchten, dass der Unterricht möglichst gut ist, und wir wollen die Kollegien entlasten.»

Den Raum geordnet verlassen

Ein Vormittag im Sommercamp. «Feedback-Kultur als Grundlage für ein gutes Klassenklima» steht im Unterrichtssaal auf der Leinwand. Die Teilnehmenden vertiefen in Gruppen einzelne Punkte und werden so Expertinnen für ein Thema.

Dann werden sie in neue, durchmischte Teams eingeteilt, damit sie ihr jeweiliges Wissen den anderen vermitteln können. Diskutieren dürfen sie draussen im Park unter der Rosskastanie. Die Dozentin lässt sie Reihe für Reihe aufstehen, damit sie den Raum geordnet verlassen.

Bild von zwei Kursteilnehmerinnen an einem Tisch im Park, Laptops aufgeklappt
Wie richtet man ein Klassenzimmer ein? Was tun, wenn sich ein Kind allem verweigert? Immer wieder kamen die Teilnehmenden in Gruppen zusammen, um zu diskutieren. Copyright: Matthias Käser / «Bieler Tagblatt»

«Didaktischer Doppeldecker», nennt Projektleiter Andrea Meuli das. Will heissen: Der Dozent verwendet didaktische Methoden, welche die Teilnehmenden auch im Schulalltag gebrauchen können.

Am Nachmittag können sie zwischen Selbststudium und verschiedenen Vertiefungskursen wählen. Dies schätzt Anita Stalder besonders. Zum Beispiel der Kurs Turnunterricht für Kindergarten und erste, zweite Klasse: Vom Hinweg zur Turnhalle im Zweierzügli bis zum Einsatz der Trillerpfeife habe sie viele hilfreiche Tipps bekommen.

Sogar Heilpädagoginnen ohne Diplom

Projektleiter Andrea Meuli empfiehlt Unterrichtenden ohne Lehrdiplom, mit einem eher kleinen Pensum zu starten. «Ein Vollpensum ist schon für ausgebildete Lehrpersonen eine Herausforderung, für jemand Unausgebildetes ist es sehr heftig.»

Von den 130 Teilnehmenden wird rund die Hälfte nach den Sommerferien als Klassenlehrperson arbeiten und damit viel Verantwortung übernehmen. Genauso wie das Dutzend Teilnehmende, die im Bereich Heilpädagogik tätig sein werden.

Eigentlich muss, wer Heilpädagoge oder Heilpädagogin werden will, an das PH-Studium noch einen entsprechenden Master anhängen. «Unser Anspruch wäre, dass im Bereich Heilpädagogik die am besten ausgebildeten Leute arbeiten», sagt Andrea Meuli. Doch der Markt ist schon lange so ausgetrocknet, dass die Schulleitungen froh sind, wenn sie die Stellen überhaupt besetzen können.

Nach den Ferien Klassenlehrerin

An der Primarschule Lengnau unterrichtet seit anderthalb Jahren eine medizinische Kosmetikerin das heilpädagogische Angebot Integrative Förderung (IF). Die 36-jährige Tamara Vincenti erzählt, dass sie in der Kosmetik irgendwann so viel erreicht hatte, dass es sie nicht mehr reizte weiterzumachen. Sie holte die Berufsmaturität nach, mit dem Ziel, soziale Arbeit zu studieren. Dafür machte sie ein Praktikum an der Schule Lengnau – und war begeistert. «Jetzt habe ich mich wirklich gefunden, das ist meins», sagt Vincenti.

Obschon sie kein Diplom hat, findet sie, dass sie in gewissen Bereichen einen Vorsprung gegenüber jüngeren Lehrpersonen hat: «Man ist belastbarer, wenn man älter ist, und mir hat es sehr geholfen, dass ich eine Tochter habe.»

Porträt von Tamara Vincenti, roter Lippenstift, schwarzes Oberteil
Tamara Vincenti sagt, dass sie die erfahrenen Lehrpersonen in Lengnau gut einführten. Als ein Mädchen ihr gegenüber alles verweigerte und sie nicht mehr wusste, wie sie mit ihr die Lernziele erreichen sollte, habe sie sich Unterstützung holen können. Copyright: Matthias Käser / «Bieler Tagblatt»

Der Schulleitung fiel Vincentis Engagement auf, und sie wurde gefragt, ob sie nach den Sommerferien eine fünfte Klasse übernehmen wolle. Darauf meldete sich Vincenti für die Weiterbildung an. Im April hat sie den ersten Kursblock besucht. «Ohne hätte ich es mir nicht zugetraut», sagt sie.

Sie belässt es nicht dabei und hat sich an der PH eingeschrieben, wo sie ab September berufsbegleitend studieren wird.

Längst nicht alle werden das Diplom nachholen

Der Projektleiter des Sommercamps ist sich bewusst, dass längst nicht alle Teilnehmenden wie Vincenti das Diplom anstreben. Die Jungen versuche man zu motivieren, ins Studium einzusteigen, sagt Andrea Meuli. Aber es gibt auch Teilnehmende zwischen 60 und 65 Jahren, die schon die Pensionierung im Blick haben. Andere erfüllen die Zugangskriterien gar nicht und müssten erst die Maturität nachholen.

Und dann sind da diejenigen zwischen 35 und 40. «Das ist bei vielen eine intensive Familienphase und es kann sehr kompliziert werden, sich zu organisieren, um ein Studium zu beginnen», sagt Meuli.

Vincenti macht sich da keine Sorgen. Als alleinerziehende Mutter sei sie geübt im Organisieren, sagt sie, die auch privat Stundenpläne schreibt, um sich Zeit für den Haushalt, fürs Studium, die Vorbereitung der Lektionen und für ihre Tochter einzuteilen.

Für Anita Stalder hat ein Studium indes im Moment keine Priorität. Sie wolle jetzt erst einmal «schauen, wie es tut» und sich konkret Hilfe holen, wenn sie Schwachstellen entdeckt. Stalder fühlt sich auch so bereit für den Kindergarten: «Jetzt bin ich kribbelig, will es einfach mal erleben und dann weiterlernen.»

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