In der Rehaklinik Tschugg übt Peter Hofer* nach einem Schlaganfall, mit den Verletzungen in seinem Gehirn zu leben. Manchmal findet das Gehirn einen Weg, manchmal die Therapeutin.

Erschienen am 27.02.2024 im «Bieler Tagblatt»

Wenn Peter Hofer* mit der linken Hand die Tasten anschlägt und die C-Dur-Tonleiter auf- und abspielt, spreizen sich Zeigefinger und kleiner Finger seiner rechten Hand ab. Hin und wieder erwischen die Finger der linken zwei Tasten auf einmal.

Bild von Peter Hofer* und seiner Ergotherapeutin am Klavier
Die Ergotherapeutin, Sena Nowarra, zeigt Peter Hofer*, mit welchem Finger er welche Taste drücken soll. Copyright: Mengia Spahr

Zwei Monate zuvor lag der 71-Jährige am Boden beim Klavier in seinem Wohnzimmer. Es war ein Uhr früh. Sein linker Arm schnellte nach vorne, um dort zu bleiben. Er gehorchte ihm nicht mehr. Peter Hofer zog sich am Klavier hoch und drückte die Tasten. Er wollte seine Frau wecken, doch das Klavier war zu leise.

Unter einer Riesenanstrengung gelangte er zur Musikanlage, drehte auf. Seine Frau kam und begriff. Um drei Uhr fuhr die Ambulanz ein und nahm Hofer mit.

In seinem Gehirn war ein Gefäss geplatzt, Blut ergoss sich ins Gewebe, anstatt die Zellen mit Sauerstoff und Nahrung zu versorgen. Hofer hat eine Hirnblutung erlitten, eine Form des Schlaganfalls.

Das war Ende Oktober. Zwei Monate später ist er in einer Ergotherapie-Stunde in der Rehaklinik Tschugg. Er sitzt in einem roten Trainer aus Velours am Klavier und übt, seine linke Hand zu gebrauchen. Die breiten Schultern verdecken mehrere Oktaven.

Ein Teil des Gehirns ist weg

Das Gehirn besteht aus rund 90 Milliarden Nervenzellen, die ständig Informationen hin- und herschicken. Werden sie nicht mit Zucker und Sauerstoff versorgt – sei es etwa, weil ein Gerinnsel die Blutbahn verstopft oder ein Gefäss platzt –, sterben sie ab.

Im Spital tun die Ärztinnen und Ärzte alles, um das Gewebe zu retten oder zumindest sicherzustellen, dass der Schaden nicht grösser wird. Einige Patientinnen und Patienten können nach drei Tagen ohne Beeinträchtigung nach Hause zurückkehren. Bei manchen bilden sich wie bei Peter Hofer die Lähmungen langsam zurück. Andere sind fortan auf Pflege angewiesen.

Ob jemand stark beeinträchtigt ist, hängt nicht nur davon ab, wie viele Hirnzellen eingehen. Es kommt auch auf den Bereich an. «Da kann jemand einen Schaden in der Grösse eines Golfballs haben, aber man würde es dem Menschen ohne genaue Tests nicht anmerken», sagt der ärztliche Direktor der Rehaklinik Tschugg, Matthias Elstner. Umgekehrt können durch eine Stecknadelkopf-grosse Verletzung wichtige Funktionen ausfallen.

Symbolbild: Baumkrone, mit Schnee bedeckte Äste
Copyright: Mengia Spahr

Bei Peter Hofer und den anderen Patientinnen und Patienten, die nach Tschugg in die Rehabilitation kommen, ist ein Gehirnteil unwiederbringlich geschädigt. Dabei spielt es eigentlich keine Rolle, ob es ein Schlaganfall war, der dies angerichtet hat oder ein Schädelhirntrauma, eine Hirnhautentzündung oder Alkohol. Manchmal geht nicht mehr viel. Sprechen geht nicht, schlucken geht nicht, sich anziehen geht nicht. Am Anfang denken die Patientinnen vielleicht, das bleibe jetzt alles so. Doch wenn das der Fall wäre, gäbe es die Rehabilitation nicht.

Es begann mit Kraftübungen

In Tschugg gibt es 42 Betten für die Neurorehabilitation. Ein Grossteil der Patientinnen und Patienten, die dafür hierherkommen, hatte einen Schlaganfall. Jeden Tag besuchen sie vier bis fünf verschiedene Therapien. In der Klinik arbeiten 25 Physiotherapeuten, 15 Ergotherapeutinnen, 5 Neuropsychologinnen, 4 Logopäden, 4 Personen, die für die Aktivierung und die Kunsttherapie zuständig sind, und 1 Ernährungsberaterin.

Bild von der Rehaklinik Tschugg
Die Rehaklinik Tschugg befindet sich im ehemaligen Landgut einer Patrizierfamilie. Copyright: Mengia Spahr

Die Rehaklinik am Hang des Jolimonts zwischen Bieler- und Neuenburgersee wurde vor 150 Jahren gegründet und war die erste Klinik für Epilepsiekranke der Schweiz. Eine Rehaklinik für Menschen mit neurologischen Problemen wurde sie erst viel später.

Karte, in der die Klinik eingezeichnet ist.

«Die Rehabilitation als Institution ist noch nicht lange salonfähig», sagt Fabio Mario Conti.

Conti war ab 1991 viele Jahre Direktor und Chefarzt der Rehaklinik und dann noch einmal vom November 2022 bis im Herbst 2023, als die Vamed Schweiz Gruppe die Betriebsführung übernahm. Lange habe man Menschen mit einer Hirnverletzung einfach in einem Heim weiterbetreut, erzählt Conti. Allerdings haben Ärzte schon früh versucht, die Lähmungen zu behandeln. Conti hat sein Leben lang medizinische Bücher aus vergangenen Zeiten gesammelt, in denen die Therapien beschrieben werden.

Fabio Mario Conti, Aufnahme vor einem Bücherregal
Fabio Mario Conti hier nicht in seiner eigenen, sondern in der Bibliothek der Rehaklinik Tschugg. Copyright: Mengia Spahr

Wenn bei einem Schlaganfall eine Körperhälfte ausfällt, sind die gelähmten Glieder zuerst schlaff. Dann werden die Muskeln manchmal hyperaktiv, ziehen sich zusammen, der Oberschenkel spannt sich an, Arm und Handgelenk beugen sich und haften in unnatürlicher Position am Oberkörper.

Im 19. Jahrhundert versuchten Mediziner, die gelähmten Muskeln zu bearbeiten. Sie massierten sie, um sie zu lockern und die Durchblutung anzuregen. Durch Kraftübungen sollten die Muskeln gestärkt werden.

Auch Anfang des 20. Jahrhunderts setzte man auf Mechanik: Ein Übungsleiter bewegte Arme und Beine der Patientin und forderte sie auf, die Bewegung zu wiederholen. Die Kraftgeräte, die eingesetzt wurden, gleichen den Beinpressen in heutigen Fitnessstudios. Man glaubte, das Gehirn würde die Bewegung wieder lernen, wenn der Körper sie vormacht. Conti schüttelt den Kopf, als er davon erzählt.

Dann kamen die Weltkriege. Im Zweiten Weltkrieg gab es so viele Hirnverletzte, dass auch viele von ihnen überlebten. Es stellte sich die Frage, was man mit ihnen machen sollte. So entstanden vor allem in Russland Schulen, in denen sich die Wissenschaftler damit auseinandersetzten, wie das Gehirn funktioniert: Was passiert im Innern, wenn jemand denkt, spricht, nach etwas greift?

Bei der Behandlung von hirnverletzten Menschen spielten die Denkprozesse allerdings noch lange keine Rolle. Erst in den 80er-Jahren entstanden Kliniken, die sich darauf spezialisierten. Ab da wurden die Denkprozesse immer mehr in die Therapien einbezogen. 1989 eröffnete man in Tschugg zuerst vier Betten für neurologische Patienten. Als Conti in die Klinik kam, war es seine Aufgabe, die Neurorehabilitation zu entwickeln.

Umherblicken, um Löcher zu füllen

Wenn man sich in den Finger schneidet, bildet sich Schorf, die Haut produziert nach und nach neue Zellen, stösst alte ab. Oft verschwindet die Narbe nach einiger Zeit. Beim Gehirn funktioniert das nicht so. Anders als die meisten Körperzellen können sich Neuronen nicht durch Zellteilung vermehren. Eine kaputte Nervenzelle ist verloren, die Verletzung in Peter Hofers Gehirn, gut versteckt unter seinen grauen Locken, bleibt. Doch sein Arm gehorcht ihm trotzdem allmählich wieder.

«Um mit dem Schaden umzugehen, macht das Gehirn sehr viele verschiedene schlaue Sachen», sagt Matthias Elstner von der Rehaklinik Tschugg. Benachbarte Bereiche können zum Beispiel die Aufgaben des geschädigten Teils übernehmen.

Grundsätzlich gilt: Ein Schaden in der rechten Hirnhälfte zeigt sich auf der linken Körperseite und umgekehrt. So entzog sich nur Hofers linker Arm seiner Kontrolle und der rechte gehorchte weiterhin. Davon abgesehen sind die Aufgaben aber verteilt.

Copyright: Mengia Spahr

Heute geht man davon aus, dass sich im Gehirn zwar bestimmte Funktionen in einem Gebiet verorten lassen. Gleichzeitig ist aber auch alles verbunden. Das Gehirn wird mit einem Netz verglichen, in dem je nachdem, was der Mensch gerade macht, verschiedene Punkte aufleuchten.

Eine Verletzung in einer Hirnregion kann auch Funktionen schwächen, die an anderen Stellen angesiedelt sind. Vice versa kann eine gesunde Hirnregion manchmal für eine verletzte einspringen. Dabei spielt es keine Rolle, wie alt der Patient ist. Diese Anpassungsfähigkeit besitzt das Nervensystem bis zum Tode.

Es kann aber auch sein, dass gewisse Funktionen nicht zurückkommen. Dann gehe es darum, die Probleme zu umgehen oder zu kompensieren, sagt Elstner. Wenn eine Patientin nicht mehr alles um sie herum wahrnimmt, weil die Sehrinde im Gehirn geschädigt ist, dann lerne sie vermehrt unbewusst umherzublicken. So könne sie Löcher im Gesichtsfeld wieder füllen.

Nebst den offensichtlichen Folgen gibt es auch verstecktere: Manche Menschen spüren nach einem Hirnschlag Berührungen und Temperatur anders. Die Emotionen können sich verändern – auf einmal sind da Wutanfälle und Ängste, und viele Betroffene sind müde oder antriebslos.

Den Alltag üben

In der Therapie-Küche in Tschugg riecht es nach Guetzli. Hier testen Patienten mit Ergotherapeutinnen den Alltag: Wie lange kann ich beim Backen und Kochen stehen? Will ein Schreiner zurück zur Arbeit, probiert er in der Klinikwerkstatt aus, wie es ist, eine Stunde lang mit lauten Geräten zu arbeiten. Auch Hofer kann in der Werkstatt ausprobieren, ob er mit seiner linken Hand schon wieder Holz verschrauben kann.

In der Klinik ist das Bad für Menschen mit Behinderungen ausgestattet; zu Hause ist die Dusche in der rutschigen Badewanne. Deshalb gibt es in den Räumen der Ergotherapie auch eine solche Dusche. Ergotherapeutin Sena Nowarra bittet Patientinnen und Patienten, die nach der Reha heimkehren wollen, Fotos von ihrem Badezimmer mitzubringen. Sie besprechen, wo ein Haltegriff oder wo Rutschstreifen angebracht werden könnten, und versuchen das bei der Attrappe genauso zu installieren, um die Bewegungen zu üben. 

Foto von Dusche mit Sitzbrett
An dieser Attrappe üben Patientinnen und Patienten in der Rehaklinik Tschugg, wie sie sich zu Hause duschen können. Copyright: Mengia Spahr

Während die Patienten in der Physiotherapie ihre Muskeln trainieren, Treppenlaufen und Aufstehen lernen, üben die Ergotherapeutinnen mit ihnen, wie sie dies auf die tägliche Routine übertragen können: In welcher Reihenfolge ziehen sie sich aus, bevor sie eine Dusche nehmen?

Nowarra zeigt einen Handschuh. «Wie eine Terminator-Hand», sagt sie. Hat jemand einen gelähmten Arm, bewegt der Handschuh die schlaffe Hand, während der Patient zusieht.

Foto von Ergotherapeutin Sena Nowarra
Sena Nowarra zeigt, mit welchen Geräten sie in einer Ergotherapie-Stunde arbeitet. Copyright: Mengia Spahr

Auch Peter Hofer hat am Anfang mit diesem Handschuh gearbeitet. Als er in Tschugg ankam, habe er mit seinem linken Arm nur einfache Bewegungen ausführen können, sagt Nowarra. Den Unterarm drehen, eine Faust ballen. Auch seine Tiefensensibilität sei gestört. Das bedeutet: Wenn Hofer seine Hand nicht sieht, weiss er nicht, in welcher Position sie sich befindet oder was sie macht. Eine gesunde Person, die im Rucksack ein Taschentuch sucht, kann sich orientieren, weiss, ob die Hand schon am Rückenfach vorbeigetastet ist. Sah Hofer seiner Hand nicht dabei zu, wie sie Essen aufgabelte, fiel die Gabel auf den Tellerrand.

Die fremde Körperhälfte

Jetzt spielt Peter Hofer zum ersten Mal wieder Klavier. Als die Stunde vorbei ist, begleitet ihn Nowarra auf sein Zimmer. Sein roter Wanderstock klopft im Gang den Takt, ab und zu begleitet von Hofers trockenem Lachen. Beim Lift soll er den Knopf mit der linken Hand drücken, die Türklinke soll er mit links öffnen.

Die Ergotherapeutin will, dass Hofer seine Aufmerksamkeit auf die linke Körperseite richtet. Sie behandelt den sogenannten Neglect, bei dem das Gehirn eine Körperhälfte ignoriert. Betroffene essen manchmal nur den halben Teller leer, weil sie die andere Hälfte ausblenden, obschon Augen und Sehen funktionieren. Es gibt Menschen, die über die eigene Hand erschrecken, wenn diese sie berührt. In Berichten liest man von Betroffenen, die versuchen, vor der fremden Körperseite auf der Matratze wegzurutschen – bis sie mit ihr aus dem Bett fallen.

«Jemandem zu erklären, dass er einen Neglect hat, ist schwierig», sagt Nowarra. Denn für die Person mit dieser Störung fühle sich nichts schief an. Doch wenn sie nach Hause zurückkehrt, lauern dort Gefahren. Zum Beispiel kann die Hand auf einer heissen Herdplatte liegen, ohne dass der Patient es merkt.

Ein anderes Krankheitsbild, mit dem die Ergotherapeutin oft zu tun hat, ist die Apraxie. Menschen mit dieser Störung bringen Bewegungsabläufe oder Handlungen durcheinander. Sie handeln in der falschen Reihenfolge oder verwenden Dinge für den falschen Zweck. Sie ziehen das Unterhemd über den Pullover an oder kämmen sich die Haare mit der Zahnbürste.

Nowarra beobachtet, dass Betroffene nicht begreifen, was der Fehler war. Oft geben sie dann dem Umfeld die Schuld. Wenn der Kaffee nicht in die Tasse will, weil sie auf dem Kopf steht, ist die Therapieküche das Problem. Zu Hause werde das dann schon gelingen, dort sei es immer gegangen, glauben diese Patienten.

Irgendwann komme es in der Ergotherapie immer zu Konfrontationen, sagt Nowarra. Die Menschen spüren, dass sie sich nicht mehr richtig ausdrücken oder bewegen können. Das macht wütend. Manche sind seit Monaten in der Klinik, machen nur kleine Fortschritte. Plötzlich wollen sie nicht mehr mitmachen, wollen den Arm für die Übung nicht mehr heben. «Je öfter man das erlebt, desto besser kann man sich abgrenzen und darüber nachdenken, wie man helfen kann», sagt Nowarra.

Foto von Ergotherapeutin Sena Nowarra und Peter Hofer* von hinten
Copyright: Mengia Spahr

Als sie sich mit Peter Hofer ans Klavier setzt, ist sie vorbereitet. Sie weiss: Vielleicht wird ihn die Übung frustrieren, weil es nicht mehr so geht wie früher. Doch Hofer wirkt gelassen und in das Spiel versunken. Er spielt immer einige Töne mehr, als Nowarra vorgibt, und erzählt, dass er das Klavier, das bei ihm zu Hause steht, eigentlich für seine Kinder erstanden hatte, diese aber Saxofon und Querflöte spielen wollten. Peter Hofer wird wohl noch ab und zu auf dem Instrument in Tschugg Töne anschlagen, bevor er nach Hause zurückkehrt.

* Name der Redaktion bekannt.



Hier geht es zum dritten Teil dieser Artikel-Serie zum Schlaganfall. Er handelt von einem Betroffenen, der nach und nach realisierte, dass sein Gehirn seit dem Hirnschlag anders funktioniert.

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