Die Iranerin Arezu Eljasi ist 2015 in die Schweiz und nach Biel geflüchtet. Jahrelang kämpfte sie für eine Aufenthaltsbewilligung – jetzt kämpft sie für ihren Traumberuf Pilotin.

Erschienen am 19.02.2023 im «Bieler Tagblatt»

Das erste Mal geflogen ist Arezu Eljasi mit 18 Jahren: von Kermanschah nach Istanbul. Als sie mit ihrer Familie aus dem Iran floh. Sieben Jahre später sitzt sie selbst im Cockpit eines Flugzeugs. Im weissen Kurzarmshirt, die Augen zusammengekniffen, geht sie die Checkliste durch und filmt sich dabei. Dann ergreift sie den Steuerknüppel und rollt auf die Startpiste. Die Bordkamera schüttelt. Arezu Eljasi hebt ab. Unter ihr die Felder bei Büren, durch die die alte Aare ihren Bogen schlägt. Zum Video schreibt sie auf Persisch: «Schau, wie weit du gekommen bist – ein weiterer Alleinflug.»

Eljasi wohnt in einem Block in Bözingen. Das Treppenhaus ist dunkel, der enge Lift hält zwischen den Etagen, sodass noch ein paar Stufen bis zur Wohnungstüre führen. Dahinter ist alles weiss, silbern, durchsichtig. Die Möbel, Kerzenständer und Lampen glitzern wie Sonnenstrahlen, die sich in einer Wolke brechen.

Arezu Eljasi serviert Schwarztee mit Zimt. Ihre Augen sind hell, die schwarzen Haare reichen ihr bis zum Bauch. Das Kopftuch habe sie weggeworfen, gleich nachdem sie in der Türkei gelandet seien, sagt sie. Sie klingt älter als ihre 25 Jahre. Aber Arezu Eljasi musste auch früh erwachsen sein.

Sie hat ihre Familie die letzten Jahre durch die Turbulenzen des Asylverfahrens manövriert. Ihre Eltern verstanden weder die Sprache noch die Prozesse beim Migrationsamt. «Ich bin die Älteste und sie haben immer von mir erwartet, dass ich helfe.» Sie sei froh, dass es jetzt weniger wurde, sagt sie.

Im Transitbereich des Asylsystems

Leute, die Eljasi heissen, kämen ursprünglich aus demselben Dorf und seien kurdisch – das wüssten im Iran alle, erklärt Arezu Eljasi. Sie erzählt, wie der Cousin ihres Vaters vor rund 20 Jahren festgenommen und seither nie wieder gesehen wurde.

Dann sagt die junge Frau, dass eines Tages auch ihr Vater verhört wurde. Wenige Wochen danach seien sie geflohen. Arezu Eljasi, die sonst immer genau schildert, was sie zu welchem Zeitpunkt und in welcher Reihenfolge gemacht hat, weiss nicht genau, welche Länder sie durchquerten. Einmal hätten sie die Schlepper irgendwo in Griechenland warten lassen: «Wir waren für drei Tage in einem Wald ohne Essen, mein damals zweijähriger Bruder weinte die ganze Zeit.»

Sie kamen in die Schweiz, wo ein Onkel von Arezu Eljasi seit 30 Jahren lebt. Er ist Bus-Chauffeur bei den Verkehrsbetrieben Biel, und in dieser Stadt – so der Plan – sollten auch Arezu, ihre Geschwister und die Eltern ein neues Leben aufbauen. Doch das erste Asylgesuch, das die Familie stellte, wurde abgelehnt. Die Eljasis mussten ins Rückkehrzentrum Aarwangen ziehen, in den Transitbereich des Asylsystems.

Die 18 Monate dort seien schlimm gewesen, sagt Arezu Eljasi. Anfangs seien sie zu sechst in einem winzigen Raum mit Etagenbetten gewesen, das Bad hätten sie mit einer Roma-Familie geteilt – 17 Leute, ein WC, eine Dusche. Eljasi besuchte damals einen Deutschkurs sowie einen Vorbereitungskurs, um später zu studieren. «Aber es war unmöglich, so zu lernen.»

Das Gesuch der Familie wurde ein zweites Mal abgelehnt. Im Mai 2020 bekam Arezu Eljasi einen Brief vom Staatssekretariat für Migration: Sie müsse die Schweiz bis Ende Juli verlassen.

Doch dann war die junge Frau plötzlich in den Medien. «Iranerin (22) soll trotz Todesdrohungen ausgeschafft werden», schrieb «20 Minuten». In einem Video von «Tele Bärn» steht Arezu am Aareufer, schaut gefasst in die Kamera und erklärt, dass auf Mitgliedschaft in der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) nach Artikel 287 die Todesstrafe stehe. Eljasi wirkt in vielen der Beiträge sehr souverän und ein wenig unnahbar. Auch jetzt zeigt ihr Gesicht kaum Regung, während sie erzählt.

Um in der Schweiz zu bleiben, exponierte sich Arezu Aljasi.
Copyright: Matthias Käser / «Bieler Tagblatt»

Eljasi verfolgte mit den Auftritten eine Strategie: «An die Medien zu treten, war meine letzte Chance», sagt sie. Auf einmal war Eljasi berühmt, sie kritisierte öffentlich die Regierung, sagte allen, dass sie Kurdin ist. Eine Freundin im Iran habe in dieser Zeit nicht mehr mit ihr chatten wollen, das Handy eines Onkels sei beschlagnahmt worden.

Eine junge, kurdische Iranerin, die sich so exponiert, konnte nicht ausgeschafft werden. Im Oktober 2020 bekam Arezu Eljasi ihre Aufenthaltsbewilligung. «Dem Gericht war klar, dass ich in Gefahr bin, wenn ich in den Iran zurückgehe.»

Spendenaufruf für Flugstunden

Sie vermisse manchmal ihre Grosseltern, sagt Eljasi. Doch nie denke sie daran, zurückzukehren. «Nicht mit dieser Regierung. Man fühlt sich einfach nicht sicher in diesem Land.» Und als Frau und Kurdin könne man keine «angesehenen» Studiengänge belegen, könne weder Polizistin noch Richterin werden, sagt sie, die sich schon immer für Mathematik und Physik interessierte. Ob eine Kurdin im Iran Pilotin werden kann, wisse sie nicht. «Ich kenne jedenfalls keinen kurdischen Piloten.» Sicher sei, dass man die richtigen Beziehungen benötige. Ohne die komme man im Iran nicht weit, sagt sie.

Arezu Eljasi sucht auf ihrem Handy ein Foto hervor: Ein neunjähriges Mädchen blickt aufgeweckt in die Kamera, die Haare unter einem Kopftuch versteckt. «Da war ich in der dritten Klasse», sagt sie. Sie habe immer gute Noten geschrieben, zwischen 18 und 20 – die Höchstnote. Im Betragen habe es aber nur für eine 14 gereicht. «Ich war nie so, wie sie es wollten.» Manche ihrer ehemaligen Schulkolleginnen gingen in den letzten Monaten im Iran auf die Strasse.

Ob Arezu Eljasi heute weniger lange auf ihre Aufenthaltsbewilligung warten müsste? Vielleicht. «Jetzt weiss die ganze Welt, wie viele Menschen sie jeden Tag töten», sagt sie.

Alle Facetten des Flugzeugs

Neben Eljasi auf der cremefarbenen Polstergruppe sitzt Rudolf Albonico. Er könnte ihr Grossvater sein. Albonico spricht langsam, macht Pausen zwischen den Wörtern und artikuliert deutlich. Er gibt Deutschkurse für Geflüchtete und engagiert sich mit dem Verein «Alle Menschen» für die ehemaligen Bewohnenden des Rückkehrcamps Bözingen und andere abgewiesene Asylsuchende. Arezu Eljasis Mutter lernt bei ihm Deutsch. Jetzt ist er hier, um Eljasi im Gespräch beizustehen.

Er spricht wenig, sagt nur ab und zu, dass Eljasi doch noch dies oder jenes erwähnen könne.

Eljasi studiert im fünften Semester Aviatik an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Während des Semesters steht sie um Viertel vor fünf auf, um den Unterricht in Winterthur zu besuchen, und kommt abends um sieben oder acht Uhr nach Hause.

Während des Studiums lernte sie alle Facetten von Flugzeugen kennen. Vom Studienleiter erfuhr sie, dass man mit einem Abschluss in Aviatik mehrere Möglichkeiten hat: Als Ingenieurin auf dem Flughafen arbeiten; Flugzeuge bauen, programmieren, designen oder sie als Linienpilotin durch den Himmel fliegen. Im Frühling vor zwei Jahren setzte sie sich zum ersten Mal in einen Flugsimulator und wusste sofort, dass das ihr Weg ist. Jetzt könne sie sich keinen anderen Beruf mehr vorstellen: «Wenn ich ein Flugzeug höre oder sehe, denke ich jedes Mal, dass ich im Cockpit sitzen möchte.»

Der Ausweis setzt Grenzen

In zehn Jahren will Arezu Eljasi Linienpilotin bei der Swiss sein. Seit letztem Sommer nimmt sie Flugstunden in Grenchen. Doch die Finanzierung hängt in der Luft. Rudolf Albonico hat einen Spendenaufruf gestartet, um Eljasis Ausbildung zur Pilotin zu finanzieren. Sie rechnet vor: Landegebühren, die immer teurer ausfallen, je grösser das Flugzeug wird, das Benzin, der Lohn des Fluglehrers. Die ganze Ausbildung koste 126 000 Franken. Von ihrem Stipendium kann sie leben, mehr nicht. Sie hat keine Ahnung, wie sie das alles bezahlen soll, aber ihr Gesichtsausdruck sagt klar: Es muss gehen.

Wenn sie frei hat, arbeitet sie als Promoterin für Coop, Migros oder Manor und lässt die Kundschaft Käse oder Joghurt degustieren. Sie solle es auch einmal ruhiger angehen, findet Albonico. «Stell dir vor: Du lernst auf Prüfungen, kümmerst dich um eine ganze Familie, nimmst Flugstunden und arbeitest noch, um Geld zu verdienen – da übernimmt man sich doch.»

Arezu Eljasi weiss: Könnte sie sich bei der Swiss zur Pilotin ausbilden lassen, käme es billiger. Doch sie hat einen B-Ausweis – für Flüge ausserhalb von Europa müsste sie jeweils ein Visum beantragen. Eljasi wirkt ein wenig erschöpft, wenn sie über all dies nachdenkt. Sie kennt die Punkte auf der Zielgeraden, bevor sie abheben kann. Einen Vorvertrag bei einer Fluggesellschaft wie Easyjet oder Helvetic sollte sie mit ihrem Ausweis bekommen, und in zweieinhalb Jahren will sie die Schweizer Staatsbürgerschaft beantragen. Mit dieser wird sie alle Grenzen überfliegen können.

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