Rudolf Salvisberg feiert mit der Jassgruppe seinen 99. Geburtstag in Aegerten. Mit dem Spiel trainiert er sein Gehirn. An seiner Frau muss er mitansehen, wie jede Erinnerung schwindet.
Erschienen am 29.07.2024 im «Bieler Tagblatt»
Aufgezeichnet
«Jeden Montag treffen wir uns im Restaurant La Strega in Aegerten zum Seniorenjass. Als mich die anderen einmal fragten, wie alt ich eigentlich sei, sagten sie: Wenn du 100 wirst, machen wir ein Fest. Aber da müssten wir ja noch ein Jahr warten. Also beschloss ich, dass wir jetzt feiern. Heute spendiere ich der Seniorenjass-Gruppe Apéro und Mittagessen.

Copyright: David Torres / «Bieler Tagblatt»
Ich wurde am 29. Juli 1925 geboren. Meine Eltern lebten damals in Italien, wo mein Vater mit Därmen für Salami handelte. Die ersten vier Jahre ging ich in Mailand zur Schule. Zur Begrüssung skandierten wir Kinder jeweils: «Viva il Duce, viva il Re.» Der Faschismus war allgegenwärtig und für Ausländer wurde es wirtschaftlich schwierig. Als wir 1935 in die Schweiz zurückkehrten, wurde die Familie getrennt: Mein kleiner Bruder kam zur Tante in Lugano, ich zum Onkel nach Zürich, wo ich die Sekundarschule besuchte.
Erst 1938 war die Familie in Olten wieder vereint. Ich besuchte die Handelsschule, spielte aber lieber Fussball, als zu büffeln.
41 Jahre bei General Motors
Um Französisch zu lernen, ging ich nach Neuenburg zu Chocolat Suchard. Ich verdiente mir Geld dazu, indem ich in der Mädchenpension in Cressier Steno-Kurse gab. Jeweils zwei Stunden am Mittwochabend und Samstagnachmittag. Pro Kurs bekam ich 20 Franken. Für mich war das viel Geld. Verdiente ich doch bei Suchard 250 Franken im Monat. In einem Jahr habe ich so 2400 Franken gespart. Das reichte gerade für den viermonatigen Englischkurs in Magglingen, den ich machen wollte.
Während des Kurses kam der Finanzchef von General Motors vorbei. Er suchte jemanden fürs Büro. 1947 bin ich dort eingestiegen – und bis 1988 geblieben.
Eines Tages wechselte derjenige, der für Italien zuständig war, zu Ford, und mein Chef meinte: Ich habe da einen, der Italienisch spricht. Sie gaben mir einen Chevrolet und sagten, dass ich am nächsten Abend in Rom sein müsse. Von da an war ich Verkaufsleiter in Italien. Es war eine wunderbare Zeit. Ich war immer unterwegs, fuhr mit dem Auto von Triest bis Palermo, besuchte die schönsten Orte, übernachtete in den besten Hotels und lernte gute Leute kennen.
Dann schickten sie mich nach Wien, wo ich zwei Jahre verbrachte.
Mit dem Vergessen leben
Nach Italien kehrte ich später immer wieder zurück. Meine zweite Frau ist Italienerin, sie stammt aus der Provinz Parma. In ihrem Dorf gab es einen alten Mann mit zwei Hunden, der Trüffel suchte. Ich kaufte ihm welche ab und sagte meiner Frau, sie solle bei den Nobelrestaurants fragen, ob sie daran interessiert seien. Ab da handelten wir mit Trüffeln. Auf dem Balkon schnürte meine Frau die Päckli für die Kunden. Sie war die beste Trüffelverkäuferin der Schweiz.

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Meine Frau hatte so viele Talente: Sie kochte wie eine Sterneköchin und fertigte Porzellanmalereien an. Jetzt ist nichts davon mehr da.Vor fünf Jahren wollte sie am Sonntagmittag den Fernseher einschalten, um den Papst zu sehen. Da stürzte sie und lag am Boden, die Hüfte kaputt. Im Spital wurde sie operiert. Dann bekam sie Alzheimer. An ihrem Geburtstag waren wir im «Falken», alles war schön. Als ich sie am nächsten Tag fragte, wie der Kuchen schmeckte, wusste sie es nicht mehr. Es ist eine schlimme Sache. Nicht für den Betroffenen, der merkt nichts, aber für den anderen. Man darf nicht verrückt werden, denn man kann ja nichts tun. Ich kann einfach die Hand meiner Frau halten, und ab und zu bringe ich es fertig, dass sie lächelt.
Zwei Monate war sie in einem Altersheim, doch das ging nicht. Ich habe sie nach Hause geholt. Seither habe ich drei Pflegerinnen, 24 Stunden am Tag ist jemand bei uns.
Am Montag kommt meine Frau jeweils mit einer Pflegerin ins «La Strega» zum Mittagessen vor dem Seniorenjass. Mit dem Alter kommen gewisse Mängel: Man sieht nicht mehr gut, hört nicht mehr gut, vergisst. Lesen ist schwierig, also jasse ich, um das Gehirn fit zu halten.

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Ich habe in der Sekundarschule in Zürich Jassen gelernt. Richtig viel jasste ich später beim FC Biel. Der spielte damals in der Nationalliga A. Ich wurde für ein paar Matches eingesetzt, war jedoch nicht gut genug. Ich jasste aber scharf. Wir Fussballer bildeten eine Jassgruppe, die sich im «Falken» traf. Jedes Spiel wurde diskutiert. Dann kamen die Jahre in Italien und Wien. Vor 20 Jahren spielte ich in Biel schliesslich wieder regelmässig mit einer Equipe aus alten Fussballern und anderen Jassverrückten. Doch die Leute starben weg, und der Klub löste sich auf. So kam ich zur Seniorenjass-Gruppe.
Einmal im Monat gehen wir ans Jassturnier im Coop-Restaurant im Centre Bahnhof in Biel.
Vor einem Jahr waren wir in der Provinz Parma in den Ferien, als der Jassnachmittag anstand. Ich bestellte ein Taxi und fuhr um sieben Uhr morgens los nach Biel. Dort holte ich mir den Tagessieg und gewann einen Gutschein im Wert von 50 Franken. Um 17 Uhr machten wir uns auf den Heimweg, schliesslich musste ich wieder zu meiner Frau zurückkehren.»