Um Mitternacht teilt Julien Tebib der Security per Funk mit, dass es eine Rangelei gibt; um 3.30 Uhr sortiert er PET-Flaschen. Tebib ist ein sogenannter Runner am Lakelive.
Erschienen am 31.07.2023 im «Bieler Tagblatt»
Um Mitternacht geben die Wolken den Mond frei, doch dafür interessiert sich hier unten niemand. Das letzte Konzert an diesem Samstagabend am Lakelive ist vorbei. Die Festivalbesucherinnen und -besucher strömen zum Ausgang – oder zur Circus Stage für die Afterparty.
Julien Tebib geht an ihnen vorbei in den abgesperrten Bereich. Er ist schnell unterwegs, es ist schwierig, mit ihm Schritt zu halten. Er sei seit Mittwoch jeden Tag hier, sagt er, um sich sogleich zu korrigieren. «Nein, seit Donnerstag – ich habe das Zeitgefühl schon verloren.»
Während neun Tagen arbeitet Tebib jeden Morgen ab neun Uhr auf dem ehemaligen Expo-Gelände. Das Ende der Schicht ist nicht definiert. Am Freitag endete sie um fünf Uhr früh.
Julien Tebib ist ein sogenannter Runner. Davon gibt es insgesamt sechs, und sie sind dafür zuständig, dass die verschiedenen Bars auf dem Areal immer genügend Getränke haben. Die Runners holen Coca-Cola und Co. aus dem Lager, und Rum für den Mojito, der an diesem Latin-Abend besonders gut läuft.

Copyright: Jonas Scheck / «Bieler Tagblatt»
Da komme man schon mal auf 40 000 Schritte, sagt Tebib. Und man müsse fähig sein, ein 20 Kilogramm schweres Bierfass in den Kühlwagen zu hieven. «Vielleicht liebe ich es auch deshalb so, weil es körperlich anstrengend ist und ich aus dem Alltag ausbrechen kann», sagt Tebib. Er arbeitet im Büro, ist Technischer Leiter bei der SBB.
Der 37-jährige Bieler, der mit seiner Familie in Lyss wohnt, ist seit dem Anfang beim Lakelive dabei und gibt dafür Ferien ein. Er sei ein Festivalmensch, sagt Tebib. Auch am Open Air St. Gallen und am Royal Arena Festival ist er jeweils im Einsatz. «Das Royal ist wie eine Klassenzusammenkunft.»

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Jemand kommt auf ihn zugelaufen. Julien Tebib verschwindet im Barzelt. Dann funkt er dem Security-Team: Es gibt eine Rangelei. Die Security werde die Beteiligten schnell beruhigen und vom Festivalgelände verweisen, sagt der Runner, der sich nicht weiter darum kümmern muss.
1 Uhr
Julien Tebib kommt mit einer Harasse voller leerer Flaschen aus dem Zelt der Circus Stage. Er nimmt die Flaschen heraus und legt Glas zu Glas, Plastik zu Plastik. Es zischt, wenn er die Luft aus den PET-Flaschen drückt.

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Tebib trägt blaue Wanderschuhe, sein Gesicht glänzt. Steht er einmal still, raucht er Zigaretten mit einem Gerät, das den Tabak nicht verbrennt, sondern nur erhitzt.
Ständig kommt jemand vorbei, den er begrüsst. Umarmungen, Schulterklopfen, einige Tanzschritte zusammen. Das Barpersonal wippt und singt mit. Eine junge Frau hinter der Bar steht mit dem Rücken zum Tresen da und filmt sich. Der Bass schlägt Fäuste in die Luft: eins, zwei, drei, vier.
1.30 Uhr
Es regnet. Draussen kühlt die Nacht die Luft. Im Innern des Zelts ist die Luft schwer. Partygänger drängen sich an den Tresen, der fast die ganze Länge der blauen Zeltwand einnimmt. Gegen 150 Leute stehen an.

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Zehn Kühlschränke werden abwechselnd aufgerissen und zugeschlagen. Innerhalb von fünf Minuten sollen alle Wartenden bedient sei. Die Stimmung ist vor und hinter der Bar gleichermassen aufgekratzt.

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2.05 Uhr
Über dem Lago Lodge leuchtet der Morgenstern. Houssien Raphael Zeaiter setzt sich auf eine Kiste. Zeaiter ist der Runner, der für die Bar der Circus Stage zuständig ist. Durch die Arbeit am Lakelive und am Royal Arena Festival sind er und Tebib zu guten Freunden geworden. Da es an den Bars, die Tebib betreut, ruhig ist, hilft er diese Nacht bei Zeaiter aus.
Zeaiter erzählt, dass er zu Hause schon mit dem Ohrstöpsel des Funkgeräts im Ohr eingeschlafen sei. Und dann sagt er, dass er eigentlich gar nicht vorhatte, dieses Jahr am Lakelive zu arbeiten. Er müsse seine Ferien hingeben dafür und der Verschleiss sei gross. Obschon er erst 29 Jahre alt sei, merke er, dass das viele Herumtragen und der wenige Schlaf ihm zusetze. Eigentlich hatte er geplant, im Juni Ferien zu nehmen, irgendwie hat er sie dann doch verschoben – und ist jetzt hier. «Lakelive ist Familie», sagt Zeaiter. Aber dieser Einsatz solle nun wirklich der letzte als Runner sein.
Wie hält man während neun Tagen 16-Stunden-Schichten durch? «Mit viel Wasser und Früchten», sagt Tebib. «Und mit Adrenalin und Freude.» Aber auch Tebib mag irgendwann nicht mehr: Einmal pro Tag habe er ein Loch, sagt er. Dann müsse er sich 30 Minuten hinsetzen. Wichtig sei, sich Zeit zum Essen zu nehmen. Nach einer halben Stunde Mittagspause werde er jedoch kribbelig und wolle weitermachen.
Von den Konzerten kriegt Tebib nicht viel mit. An diesem Abend habe er eine Viertelstunde dem Reggaeton-Sänger Ozuna zugehört. «Dann sah ich zwei, drei Sachen, die ich ändern wollte, und arbeitete weiter.» Dabei sagt Tebib, dass er ein grosser Musikfan sei. Konzerte geniesse er an Festivals, an die er als Besucher gehe.
Auch Julien Tebib ist dieses Jahr wohl vorerst zum letzten Mal als Runner im Einsatz. In einem Monat wird er zum dritten Mal Vater. Mit einer Familie könne er seine Ferien nicht mehr am Festival verbringen. «Einfach wird es nicht, nicht mehr Teil der Crew zu sein», sagt Tebib.
2.30 Uhr
Die Bässe verstummen. Ein Mann, der hinter der Bar arbeitet, kommt aus dem Zelt und streckt seine Beine aus. «Meine Füsse brennen so», sagt er zu einer Kollegin. Sprechen die Leute hinter der Bar mit den Besucherinnen und Besuchern, wirken sie wach wie eh und je. Doch wenn sie sich den Kühlschränken zuwenden, legt sich Müdigkeit über die Gesichter. Immer wieder kommt jemand im schwarzen «Crew»-T-Shirt aus dem Zelt und schüttet halb leere Becher aus, um sie dann in eine Kiste zu werfen.
3 Uhr
Hinter dem Zelt liegt ein Haufen Eiswürfel. Vor einer Viertelstunde wurde die letzte Runde ausgeschenkt. Die meisten Besucherinnen und Besucher haben das Zelt verlassen, und Security-Mitarbeitende führen die Verbliebenen zum Ausgang. Tebib hilft, wenn jemand partout noch nicht nach Hause will. Er klopft auf Schultern, sagt den Leuten, dass sie am nächsten Tag wiederkommen sollen.
3.10 Uhr
Im Zelt der Circus Stage sind jetzt nur noch die Helferinnen und Helfer. Sie picken Zigarettenpäckli, Strohhalme, Biskuit-Packungen und zerdrückte Flaschen vom Boden auf. Manche gähnen. Säcke füllen sich mit Aludosen. Als nichts mehr herumliegt, ruft die Barchefin die Crew zu sich. Sie stossen an. Doch die Nacht ist noch lange nicht vorbei.
Die Kühlschränke müssen gefüllt werden und die Runner werden damit beginnen, Nachschub in den Kühlwagen und Kühlzelten bereitzustellen. In den frühen Morgenstunden werden alle zusammenkommen, etwas essen und besprechen, womit der nächste Einsatz wenige Stunden später beginnt.