2019 wollten Mitglieder des kurdischen Kulturvereins in Biel einen mutmasslichen Spitzel der Regierung zu einem Geständnis zwingen. Jetzt war die Journalistin hinter der Kamera vor Gericht.

Erschienen am 20.09.2024 im «Bieler Tagblatt»
Mitarbeit: Vanessa Schaad

Am 16. Mai 2019 filmt eine Journalistin im Lokal des kurdischen Kulturvereins in Biel. Vor der Linse ein Mann. Ein anderer spricht ihm vor, was er zu sagen hat: Dass er für die türkische Regierung arbeite, dass er ein Spitzel sei.

Der Mann vor der Kamera geht am nächsten Tag auf den Polizeiposten und zeigt die Journalistin an. Ihm sei gedroht worden. Man habe ihm gesagt, seinen Kindern würde etwas passieren, wenn er sich vor der Kamera nicht schuldig bekenne.

Vor einem Jahr rügte das Gericht die Selbstjustiz

Doch da ist noch mehr: Etwas mehr als zehn Tage zuvor fand im Keller eines Bieler Restaurants ein rund sechsstündiges Verhör statt. Sechs türkische Kurden wollten dem Mann ein Geständnis abringen. Er, der Pizzaiolo, sollte zugeben, dass er Bruder und Vater des Restaurantbesitzers an die türkische Regierung verraten hatte. Er sollte gestehen, ein Spitzel zu sein, der sich in der kurdischen Gemeinschaft eingenistet hatte und sie ausspionierte.

Möglich, dass an dem Verdacht etwas dran ist. Gegen den ehemaligen Pizzaiolo ist am Bundesstrafgericht in Bellinzona ein Verfahren eingeleitet worden. Doch jetzt ist der Fall wieder bei der Bundesstaatsanwaltschaft. Denn es gibt ein Problem mit einem wichtigen Beweismittel: Das Handy, das die Kurden der Polizei später übergeben haben. Der angebliche Spion habe es nicht freiwillig ausgehändigt, urteilte das Regionalgericht Berner Jura-Seeland vor einem Jahr. Es wäre also als Beweismittel nicht zulässig.

Das Gericht rügte damals die Selbstjustiz im Restaurantkeller und verurteilte die türkischen Kurden wegen Nötigung zu bedingten Freiheitsstrafen zwischen 14 und 24 Monaten.

Hätte sie es erkennen müssen?

Nun, ein Jahr später befasst sich ein Einzelgericht mit den Vorkommnissen der abermaligen Befragung im Lokal des kurdischen Kulturvereins. Auf der Bank sitzt die Journalistin, deren Namen der ehemalige Pizzaiolo der Polizei nannte, während er ansonsten Anzeige gegen unbekannt einreichte. Die Anklage lautet auf Gehilfenschaft zur Nötigung.

Der Anwalt des Privatklägers vermutet sogar eine Mittäterschaft, da die Auswertung der Chats zeigt, dass sie und der Drahtzieher dieses Verhörs sich regelmässig Nachrichten schrieben. Er sagte am 18. September 2024 in seinem Plädoyer, dass sie wohl kaum zufällig ausgewählt worden sei, um die Einvernahme zu filmen. Auf jeden Fall aber hätte sie ihm zufolge erkennen müssen, mit welchen Methoden dieses Interview geführt wurde und wie gefährlich die Aussage vor der Kamera für seinen Mandanten hätte werden können. Der Kläger selbst sagte in einer Einvernahme: «Als Journalistin hätte sie merken müssen, dass dies innerhalb der Arbeiterpartei Kurdistans publiziert würde und das für mich tödlich sein könnte.»

Der Verteidiger hielt dagegen, es sei unverständlich, dass sich seine Klientin vor Gericht verantworten müsse, während die Drahtzieher davonkommen. Sie sei einzig in ihrer Rolle als Journalistin anwesend gewesen. Vor Gericht wurde noch ein weiterer Journalist einvernommen – als Zeuge. Er erhielt an jenem Abend ebenfalls einen Anruf, er solle nach Biel kommen, um ein Interview zu führen. Doch weil er sich in Genf aufhielt, sagte er ab.

Freispruch für die Journalistin

Für Gerichtspräsidentin Kerstin von Arx gibt es keinen Grund, von einer Mittäterschaft auszugehen und auch für eine Gehilfenschaft seien die Voraussetzungen nicht erfüllt. Am Donnerstagnachmittag spricht sie die Beschuldigte frei. Ihr steht eine Genugtuung von 400 Franken zu für die zwei Tage, die sie inhaftiert war.

Die Richterin zweifelt indes jedoch nicht am Sachverhalt. Ihr zufolge wird sich dieses Interview «in Anführungszeichen» ungefähr so zugetragen haben, wie es der Kläger schilderte. Er erzähle glaubhaft und ohne zu übertreiben. Auffällig sei nur, dass er der Beschuldigten im Laufe der Einvernahmen immer mehr Verantwortung zugeschoben habe. «Man hat den Eindruck, dass er jemanden brauchte, der bestraft wird für das, was ihm passiert ist», sagt von Arx. Dass seine Anzeige sich gegen die Journalistin richte, erstaune nicht, denn vor ihr habe er wohl weniger Angst gehabt als vor den anderen Beteiligten.

Die Aussagen der Beschuldigten haben zwar wenig zur Klärung beigetragen: Zuerst sagte sie, sie sei an jenem Abend nicht in Biel gewesen, dann gab sie zu, was die Ermittlungen an den Tag befördert hatten. Vor Gericht schwieg sie. Leider, wie die Gerichtspräsidentin findet. «Wir wären an einer Aussage interessiert gewesen.»

Sie habe es erkannt

Doch es gibt Beweismittel, die dabei helfen, die Geschehnisse zusammenzusetzen. Das Gericht hat sich 749 Seiten voller Chats angeschaut und mit Deepl übersetzt. Sie zeigen, dass die Beschuldigte sich tatsächlich regelmässig mit dem Drahtzieher des Verhörs austauschte – über das Wetter, die Gesundheit und Demonstrationsaktivitäten. Es gibt laut der Richterin keinen Grund zur Annahme, dass die Journalistin in die Geschichte um den mutmasslichen Spion eingeweiht war. Und eine Auswertung der Handydaten zeigt noch mehr.

Am 16. Mai 2019 um 21.40 wurde ihr Telefon in Zürich geortet. Kurz darauf lässt sich eine Bewegung auf der A1 in Richtung Biel nachzeichnen. Selbst wenn sie zu schnell fuhr, sagt die Gerichtspräsidentin – vor 22.45 Uhr könne die Journalistin nicht in Biel eingetroffen sein. Dann um 22.54 Uhr diese Nachricht des Drahtziehers: «Ich habe Verständnis für Sie, aber…»

Von Arx rekonstruiert: Die Journalistin muss das angebliche Interview nach rund zehn Minuten abgebrochen haben. Sie habe wohl begriffen, worum ging, beendete die Aufnahmen, nahm die Speicherkarte aus der Kamera und legte sie auf den Tisch. «Sie hat sofort den Riegel geschoben», sagt die Richterin.

Darauf schrieb ihr der Drahtzieher die verärgerte Nachricht. Sie antwortete, sie habe eine schwere Zeit. Das Verhalten zeige, dass sie vor dem Interview nicht gewusst habe, worum es ging – genauso wenig wie der Journalist, der als Zeuge ausgesagt hatte.

Dem Gericht zufolge fuhr die Beschuldigte also nicht nach Biel, um ein erzwungenes Geständnis aufzunehmen. Somit fehle der Vorsatz und die Zielgerichtetheit der Handlung, die für eine Verurteilung wegen Gehilfenschaft nötig seien.

Während die Richterin ihr Urteil erklärt, sitzt die Beschuldigte auf ihren Händen und hört regungslos zu. Erst beim Verlassen des Gerichtsgebäudes ist ihr die Erleichterung anzusehen.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Teilen Sie diesen Beitrag

Schreibe einen Kommentar