Vier Kurden wollten gemäss Anklage im Keller einer Bieler Pizzeria einen mutmasslichen Spitzel zu einem Geständnis zwingen. Das Regionalgericht urteilt im Zweifel für die Angeklagten.

Erschienen am 19.09.2023 im «Bieler Tagblatt»

Am 7. Mai 2019 fand im Keller einer Bieler Pizzeria während rund sechs Stunden ein Verhör statt. Sechs türkische Kurden versuchten den Pizzaiolo zum Reden zu bringen. Er musste Schlüssel, Portemonnaie und Telefon abgeben; sollte gestehen, dass er die kurdische Gemeinschaft bespitzelte – und Vater und Bruder des Restaurantbesitzers an die türkische Regierung verraten hatte. Die beiden wurden zu diesem Zeitpunkt wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation in der Türkei festgehalten und möglicherweise misshandelt.

Misshandelten die Kurden in Biel ihrerseits den mutmasslichen Spion? Schlugen sie ihn? Drohten sie ihm mit einem Messer? Sperrten sie ihn zweimal für zehn Minuten in den Tiefkühlraum?

Vier der sechs Tatverdächtigen sassen am 18. September 2023 vor dem Regionalgericht Berner-Jura-Seeland und warteten auf das Urteil. Einer ist wohl flüchtig, der zweite Abwesende unbekannt.

Deutlich mildere Strafen als gefordert

Die Anwesenden sind alle irgendwie miteinander verwandt: Cousins und Ehemann der Cousine. Männer im Alter zwischen 34 und 45 Jahren. Weitere Verwandte sitzen in den Zuschauerreihen.

Der Gerichtspräsident verurteilt die vier Kurden zu bedingten Freiheitsstrafen – je nach Rolle beim Vorfall erhalten sie zwischen 14 und 24 Monaten. Das Strafmass liegt damit deutlich unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft. Diese hatte Strafen von bis zu 38 Monaten gefordert, zumindest einen Teil davon sollten die Beschuldigten im Gefängnis absitzen. Vor allem aber hatte sie Landesverweise verlangt.

Gerichtspräsident Markus Gross erklärt, wie das Gericht zu einem anderen Urteil kam. Er spricht über die Beweislage. Da ist zum einen alles, was dokumentiert ist: Es gibt Fotos von den Kellerräumen, in denen das Verhör stattgefunden haben soll. Ja, sogar ein Foto, das einer der Beschuldigten während der Tat aufgenommen und später gelöscht hat: Es zeigt den Pizzaiolo am Tisch mit einem Verband am Auge. Auf dem Tisch und einem Holzstuhl, wo er sass, hat die Spurensicherung später sein Blut gefunden. Einen Tag nach dem Vorfall hat ein Arzt im Spital Aarberg das Auge des Opfers untersucht. Die Diagnose: ein geprellter Augapfel, ein Bluterguss und eine Rissquetschwunde, die genäht werden musste, sowie ein Bruch bei der Kieferhöhle. Ein übles Veilchen also. Aber war da mehr?

Angeklagt sind die Beschuldigten unter anderem wegen besonders grausamer Freiheitsberaubung und wegen Körperverletzung mit einem Messer. Grausam ist es nach Ansicht der Staatsanwältin etwa, ein Opfer in einen Tiefkühlraum zu sperren, wo bis zu minus 20 Grad Celsius herrschen. Nur: In diesem Raum haben die Ermittler keine Spuren gefunden.

Vier Kurden erklären vor dem Regionalgericht, wie gefährlich es für sie in der Türkei ist, seit sie von einem ehemaligen Kollegen bespitzelt wurden. Aber in diesem Prozess sitzen sie selber auf der Anklagebank. Copyright: Matthias Käser / «Bieler Tagblatt»

In den letzten viereinhalb Jahren sind Beschuldigte wie Opfer mehrmals vernommen worden. Ein letztes Mal vor einer knappen Woche vor Gericht. Von den Beschuldigten war wenig zu erfahren, sie wollten sich nicht mehr zum Fall äussern.

Es sei nachvollziehbar, dass die Verteidiger ihnen offenbar geraten haben, lieber nichts mehr zu sagen, stellt der Gerichtspräsident fest. Denn die Beschuldigten bestreiten den Sachverhalt weitgehend und haben von Befragung zu Befragung mehr Ungereimtheiten kreiert. «Es würde den zeitlichen Rahmen sprengen, alle Widersprüche aufzuzeigen», sagt Gross. Unglaubwürdig seien aber nicht nur die Beschuldigten.

Die Anklage basiert auf den Schilderungen des Pizzaiolos – und nun zeigt Gross auf, dass auch jener ein wenig verlässlicher Zeuge ist.

Der rote Notfallknopf

Zum Beispiel sagte er aus, seine Peiniger hätten ihm zweimal Schuhe, Socken und die gesamte Oberbekleidung ausgezogen und ihn dann in den Tiefkühlraum gesperrt. Dem Gericht ist aufgefallen, dass er nie schilderte, wie das vor sich ging: Wurden ihm die Kleider vom Leib gezerrt? Und wie hat er sie später wieder angezogen? Auch die Erzählung vom Eingesperrt-Sein fällt vage aus: Das Opfer beschreibt nicht, wie es in Panik geriet, schrie, gegen die Türe schlug, versuchte, sich warmzuhalten, oder sonst tat, was Menschen in einer solchen Situation tun würden.

Das Gericht hat sich auch Fotos vom Kühlraum genau angeschaut. Dabei ist dem Dreiergremium ein grosser roter Knopf im Innern neben der Tür aufgefallen. Er frage sich schon, wieso der Pizzaiolo in dieser Situation nicht den Notknopf drückte, so der Gerichtspräsident. Zumal er mit dem Raum vertraut sein dürfte.

Zu wenig detailliert spricht das Opfer nach Ansicht des Gerichts auch über die Gewalt, die es erfahren haben soll. Wo ihn die Schläge trafen und wie stark sie ausfielen, kann der Kläger nicht ausführen. Jeder Beschuldigte soll etwa zehnmal zugeschlagen haben. Gross rechnet vor: «Wir wären also bei 40 bis 50 starken Faustschlägen.» Das passe schlicht und einfach nicht zum Verletzungsbild.

So kommt das Gericht zum Schluss, dass sich drei zentrale Punkte der Anklage nicht erhärten lassen: die zahlreichen Schläge gegen Gesicht und Oberkörper, der Einsatz von Messern und das Einschliessen im Kühlraum.

«Unzulässige Form von Selbstjustiz»

Die Beschuldigten zeigen sich ihrerseits nach Ansicht des Gerichts weder einsichtig noch reuig. Jemand, den sie seit Jahren kannten, sollte sie verraten haben. «So etwas ist kein Mensch», hat ein Beschuldigter in der Einvernahme über das Opfer gesagt. Als die eigene Recherche zutage förderte, dass der Pizzaiolo wohl Bruder und Vater denunziert hatte, war der Restaurantbesitzer offenbar ausser sich. Er soll herumgeschrien und mit der Faust zugeschlagen haben. Er wird denn auch als einziger wegen einfacher Körperverletzung verurteilt.

Alle vier Beschuldigten werden der Freiheitsberaubung und versuchten Nötigung schuldig erklärt.

Das Verhalten sei zwar erklärbar, sagt Gerichtspräsident Gross. Den Kläger zu packen und an den Pranger zu stellen, sei aber «eine völlig unzulässige Form von Selbstjustiz».

Für die Staatsanwältin zeigt dieses Handeln, dass die Beschuldigten bereit sind, sich über die Schweizer Rechtsordnung zu stellen, wenn es um einen möglichen Verrat von Landsleuten geht. Sie würden die öffentliche Sicherheit in erheblicher Weise gefährden, sagte sie in ihrem Plädoyer. Da es sich beim Tatbestand der Freiheitsberaubung um eine sogenannte Katalogstraftat handelt, die einen Landesverweis nach sich zieht, verlangte sie, dass die drei Beschuldigten ohne Schweizer Pass ausgeschafft werden. Zwei davon in die Türkei.

Ausschaffung verstösst gegen Völkerrecht

Doch das Gericht spricht sich klar dagegen aus. Die Beschuldigten seien gut integriert und ein Landesverweis wäre unverhältnismässig. Vor allem sprächen aber auch völkerrechtliche Gründe dagegen. Das Gericht beruft sich auf das sogenannte Non-Refoulement-Prinzip. Dieses besagt, dass keine Person in ein Land zurückgewiesen werden darf, wo ihr Folter oder andere unmenschliche Behandlung drohen. 

Es sei davon auszugehen, dass das bei den Beschuldigten der Fall wäre. Denn türkische Medien haben über das Verfahren gegen sie berichtet und sie als Mitglieder oder Sympathisanten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bezeichnet.

Als die Ausschaffung vom Tisch ist, lacht im Publikum jemand erleichtert auf. Beim Verlassen des Gerichtssaals sind die Beschuldigten fast ein wenig ausgelassen. Sie posieren mit den Angehörigen für Fotos vor dem Gebäude.

Noch ist das Urteil nicht rechtskräftig. Die Parteien können es weiterziehen. Der Anwalt des Privatklägers muss sich erst mit diesem besprechen, sagt aber, er finde das Urteil sachgerecht. Selbst er wirkt erleichtert. Dies dürfte auch daran liegen, dass das Gericht zum Schluss gekommen ist, dass der mutmassliche Spion sein Telefon den Beschuldigten nicht freiwillig ausgehändigt hatte, damit diese es nach belastenden Nachrichten durchsuchen konnten.

Sie hatten das Telefon daraufhin der Polizei übergeben. Herauszufinden, wie es zu ihr gelangte, ist wichtig, da gegen den Pizzaiolo am Bundesstrafgericht in Bellinzona ein Verfahren läuft – wegen Verdachts auf Spionage. Und es stellt sich die Frage, ob die Handydaten überhaupt als Beweismittel zulässig sind.

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